Brüssel, 26.11.2019 

Die sicherheitspolitischen und strategischen Auswirkungen der militärischen Operationen der Türkei in Nordostsyrien stehen weiterhin im Fokus. Erst letzten Freitag wurden neue Meldungen über den Tod von über 20 Zivilisten nach der gestrigen Bombardierung einer Flüchtlingsunterkunft im Nordwesten des Landes bekannt. Auch Diskussionen um Rückführungen von IS-Unterstützern nach Europa und die Sorge um einen Anstieg an Menschen, die zur Flucht gezwungen werden, sind immer noch ein Fokuspunkt. Gerade im Angesicht dieser jüngsten Entwicklungen, mahnt Engin Eroglu, Europaabgeordnete der FREIE WÄHLER, die Lage in Syrien sachlich zu betrachten, um das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren und langfristige Lösungsansätze entwickeln zu können.

 

Derzeitig hat sich die befürchtete Migrationsbewegung als Folge des völkerrechtswidrigen Einmarschs der Türkei in Nordostsyrien entgegen den Erwartungen europäischer Medien bisher nicht im erwarteten Ausmaß realisiert. Dies lässt sich auf zwei Hauptgründe zurückführen. Erstens war das Gebiet, in dem die Operation stattfindet, durch die zuvor stattgefundenen Kriegshandlungen bereits zu großen Teilen entvölkert. Im Gegensatz zu dem, was die Türkei zunächst angekündigte und westliche Medien befürchteten, ist die Fläche, die von den türkischen Streitkräften derzeitig gehalten wird, zudem kleiner als erwartet. Eroglu: „Daher und wahrscheinlich auch, da die Entsendung einer großen Zahl von Geflüchteten nach Europa nicht im eigenen Interesse der Türkei liegt, sind verstärkte Migrationsbewegungen aus Syrien und der Türkei gegenwärtig nicht die primäre Herausforderung für Europa.“

 

Auch die zunächst angenommenen Befürchtungen, der türkische Einmarsch in Syrien würde einen Völkermord an der kurdischen Minderheit nach sich ziehen, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Dennoch bedeutet dies nicht, dass die geopolitische Situation der syrischen Kurden nicht nach wie vor äußerst besorgniserregend ist und sie aufgrund der Kämpfe seit der Militäroperation Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Zwangsvertreibungen geworden sind. Die Militäroperation der Türkei hat das Kräfteverhältnis und die geopolitische Lage zugunsten Bashar al-Assads und somit letztlich auch Russlands, das das syrische Regime unterstützet, verschoben, indem das Regime seine Kontrolle über das nordsyrische Gebiet ausweiten konnten. Während Assad, unterstützt durch Russland, seit der russischen Militärintervention 2015 mit äußerster Härte weite Gebiete unter seine Kontrolle zu zwingen versucht, stand der Nordosten Syriens zuvor weitgehend unter kurdischer Verwaltung und galt als überwiegend stabil und friedlich. Eroglu: „So wie sich die Situation vor Ort ergeben hat, lässt sich die Frage aufwerfen, ob es Absprachen zwischen russischen, amerikanischen und türkischen Vertretern vor dem Abzug der US-Truppen und dem anschließenden Einmarsch der Türkei gegeben hat?“

 

Eroglu erklärt weiter: „Auch das Argument den Syrien-Konflikt für beendet zu erklären, indem man sagt, dass es zu spät ist, etwas zu tun und zu behaupten ein Sieg Assads würde Syrien zumindest Stabilität bringen, ist der falsche Ansatz. Ein solches Argument ist nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich. Kein Konflikt in der Geschichte hat jemals den Punkt "zu spät, um etwas zu tun" erreicht. Im Falle Syriens nichts zu tun bedeutet einfach, eine Phase des Konflikts zu beenden und gleichzeitig den Weg für eine noch repressivere Zukunft zu ebnen.“

 

Anstatt das Augenmerk zudem zu stark auf die Problematik der Rückführung von IS-Unterstützern nach Europa zu richten, von denen 1200 in der Türkei inhaftiert sind, sollte der Fokus verlagert werden. Obwohl die Uneinigkeit und das Fehlen einer allgemeinen Reglung zwischen den Mitgliedstaaten die Rückführung erschwert, ist der Vorteil, dass Informationen über diese Personen bekannt sind. So können sie nach ihrer Rückkehr strafrechtlich verfolgt und weiter beobachtet werden. Eroglu erklärt: „Viel besorgniserregender sind hingegen die IS-Unterstützer, die in Syrien und im Irak noch frei sind und über die wir keinerlei Informationen haben. Auch wenn sie heute keine direkte Bedrohung für Europa darstellen, werden sie ähnlich wie der IS selbst, auch ohne ihren Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, ein langfristiges Problem darstellen, das wir gezielt angehen müssen.“ Darüber hinaus stellen potentielle neue Unterstützer der Terrororganisation, die Reaktivierung von Schläferzellen nach dem Fall Baghdadis sowie die (unveränderten) Umstände, die dem IS zum Aufstieg verholfen haben, ein ernstzunehmendes strategisches Sicherheitsrisiko dar.

 

Daher sind Europas größte Herausforderungen in der Region derzeit strategischer Natur und nicht vorrangig taktisch. Nicht erst seit der türkischen Operation hat sich die EU als geopolitischer Akteur in Syrien selbst ausgeschlossen, während Russland, der Iran und die Türkei vor Ort großen Einfluss ausüben. Eroglu bekräftigt dies: „Internationales Völkerrecht und unsere gemeinsamen europäischen Werte werden in den kriegerischen Auseinandersetzungen täglich verletzt. Dies zeigt, dass die Diskussion breiter sein muss als die türkische Militäroperation und sich auf die strategische Autonomie der EU konzentrieren sollte. Bevor wir unsere Empörung über das, was andere tun, ausdrücken, müssen wir selbst mehr tun. Während die Welt mit den unmittelbaren Auswirkungen der türkischen Offensive beschäftigt ist, sollte der Schwerpunkt auf dem liegen, was langfristig geschehen sollte, und die Notwendigkeit unterstrichen werden, militärische Aktionen mit politischen Strategien zu verknüpfen.“