Bald wird sich der ungerechtfertigte Angriff Putins auf die Ukraine zum ersten Mal jähren, genau wie die viel zitierte Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Ukrainerinnen und Ukrainer machen seit dem russischen Angriff durch ihre unerwartete Widerstandsfähigkeit und ihre Entschlossenheit auf sich aufmerksam. Leider kann dasselbe nicht von der deutschen Bundesregierung gesagt werden. Die Zeitenwende-Rede des Kanzlers weckte die Hoffnung, dass Deutschland nun endlich seinem Anspruch und den Erwartungen der westlichen Partner gerecht und eine Führungsrolle in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik übernehmen würde. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro lies zudem die Erwartung umfangreicher Investitionen entstehen, um die jahrelange Unterfinanzierung der Bundeswehr mittel- bis langfristig umzukehren. Inflation und langsame Planungsvorgänge lassen jedoch bereits heute befürchten, dass wir mindestens das Doppelte werden investieren müssen – Japan, welches sich in einer ähnlichen Situation befindet, kündigte die Investition von gut 300 Milliarden US-Dollar in seine Streitkräfte an. Auch hat die Zeitenwende noch nicht zu nennenswerten Verbesserungen bei real verfügbarer Ausrüstung der Bundeswehr geführt. Leider zeichnet sich die Bundesregierung noch immer durch ihr zögerliches Vorgehen aus. Unsere Partner haben nach wie vor den Eindruck, dass sich der Bundeskanzler nur dann bewegt, wenn wirklich alle Alternativen ausgeschöpft sind. Ja, die Bundesregierung hat sich bewegt und ja, die Bundesregierung hat wertvolle Unterstützung im Ukraine-Krieg geleistet. Aber bei der Debatte über die Leopard-2-Kampfpanzer befanden wir uns wieder einmal in einer Situation, in der Berlin seine Partner vor den Kopf stieß und eben nicht wie erhofft, entschlossen voranging. Mit diesem wiederholten Zögern und Zaudern riskiert die Bundesregierung, dass Deutschland bald alleine dasteht. Zudem ist dieses Agieren schädlich für die Bestrebungen der EU, sich in der Verteidigung als verlässlichen Partner zu präsentieren, von europäischer Autonomie ganz zu schweigen. Es ist außerdem fatal zu glauben, sich ein Abwarten leisten zu können. Russland darf nicht unterschätzt werden, trotz der offensichtlich guten Fähigkeiten der Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Entwicklungen in Soledar zeigen, dass auch die russische Armee Erfolge erzielt. Es gibt aktuell Spekulationen über eine mögliche russische Frühjahrsoffensive. Zudem ist es so, dass die ukrainische Luftabwehr zwar gut funktioniert, diese jedoch relativ teuer ist, wenn man sie mit den „billigen“ iranischen Drohnen vergleicht, mit denen die russische Armee immer wieder angreift.

Es bleibt also keine Zeit zu verlieren. Vielleicht wäre der Bundesregierung geholfen, zunächst die Frage nach den eigenen Zielen zu stellen und diese zu definieren. Dieser Schritt wäre alleine deshalb begrüßenswert, weil man damit die Fehler des Afghanistan-Einsatzes nicht wiederholte. Damals folgte die Bundesregierung schlicht dem Bündnispartner USA, ohne die eigenen Interessen festzustecken. Das Ergebnis war eine diffuse Gemengelage mit einem bekanntermaßen katastrophalen Ende. Die Frage nach den deutschen Interessen lässt sich durch die Frage beantworten, was ein russischer Sieg über die Ukraine für Deutschland und die EU bedeuten würde. Zunächst wären da die symbolischen Konsequenzen. Ein russischer Sieg würde möglicherweise Nachahmer zum Handeln motivieren. China ist mit der Taiwan-Frage ein oft genannter Kandidat, aber bei weitem nicht der einzige. Vor allem wäre die EU jedoch ganz konkret mit einer ständigen Bedrohung durch einen imperialistischen (dann) direkten Nachbarn konfrontiert. Dadurch bekämen die Beistandsklauseln der NATO und der EU ein viel größeres Gewicht und könnten im Falle weiterer russischer Aggressionen eine direkte militärische Beteiligung Deutschlands und anderer europäischer Länder erforderlich machen. Auch wenn das transatlantische Bündnis und das amerikanische Bekenntnis zur NATO unter Präsident Biden wieder gestärkt sind, kann sich Europa langfristig nicht darauf verlassen, die uneingeschränkte Unterstützung der USA in der Verteidigung seines Territoriums zu haben. Auch ein Kriegsende ohne ukrainische Unabhängigkeit und ohne die Schaffung klarer Verhältnisse wäre für Deutschland und die EU nicht wünschenswert. Würden die Kampfhandlungen auf niedrigerem Niveau auf unbestimmte Zeit fortgeführt, wäre auch die EU auf unbestimmte Zeit gefordert.

Viele Stimmen sind überzeugt, dass sich Putin erst dann an den Verhandlungstisch setzen wird, wenn er durch die Beendigung des Krieges mehr gewinnen kann als durch seine Fortsetzung. Die EU und ganz besonders die Bundesregierung sollten also alles daransetzen, die Ukraine wirtschaftlich, politisch und militärisch zu unterstützen, um sie in eine überlegene Position zu versetzen. Dabei geht es nicht darum, Russland vernichtend zu schlagen oder einen „endgültigen“ Sieg über Russland zu erzielen. Gerade aus deutscher Perspektive sind diese Formulierungen äußerst fragwürdig. Russland muss immer eine Chance auf eine Zukunft geboten werden, wie auch Deutschland sie nach dem zweiten Weltkrieg erhielt. Es muss jedoch eine Situation geschaffen werden, in der Putin ohne Vorbedingungen in Friedensverhandlungen einwilligt. Dafür sind die Lieferungen von Leopard- und anderen Kampfpanzern ein richtiger und wichtiger Schritt.